Schulversuch Birkenwerder
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Ein Tag in der Grundschule


Eine ganz normaler Tag in der Grundschule Birkenwerder
von Franziska Weinert und Katrin Düring

Franziska besuchte für eine Reportage im Rahmen des Deutschunterrichts der Klasse 8 einen Tag die 1. Klassen der Grundschule Birkenwerder. Zu ihrem ganz persönlichen Bericht hat Katrin Düring aus ihrer Sicht als Schulversuchsleiterin einiges Grundsätzliches zum integrativ-kooperativen Modell angemerkt. So entstand ein Text, der das Besondere an einem ganz normalen Schultag in der Grundschule Birkenwerder beschreibt.

Die Pestalozzi-Grundschule ist eine der beiden Schulen aus dem Schulversuch "Die integrativ-kooperativen Schulen in Birkenwerder".1 Einen Schultag lang habe ich die drei 1. Klassen besucht. In der 1a lernen nur Kinder mit Behinderungen; die 1b ist die Klasse mit gemeinsamem Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen und es gibt noch die 1c, in diesem Jahr eine Klasse ohne Integration.
Es ist ungefähr 7.30 Uhr und meine Schwester Klara, ihr Freund Nigel und ich sind die ersten vor dem Klassenraum der 1c2. Noch abgeschlossen - na macht nichts, jemand kommt schon und schließt uns auf. Die Klassenräume der 1. Klassen sind nebeneinander im Untergeschoss. Etwa eine viertel Stunde vor Unterrichtsbeginn, trudeln jetzt die Kinder ein. Heute soll im Unterricht gehandelt werden. Kleinigkeiten, die man gerade so entbehren kann, wurden von zu Hause mitgebracht. Alle stürzen begeistert aufeinander zu und sagen sich, was sie verkaufen und was sie lieber behalten würden.
Kurz vor Stundenanfang wird es jetzt mit den 26 Schülerinnen und Schülern aus der Klasse turbulent und es ist beachtlich, dass Frau Günther, die Klassenlehrerin, in dem morgendlichen Durcheinander ganz gelassen die Blümchen gießt und den Dingen ihren Lauf lässt. "Was schreibst du denn da so viel?", wurde ich jetzt schon von mindestens vier Kindern hintereinander gefragt. Jedes Mal erkläre ich, dass ich für meinen Deutschunterricht eine Reportage, also "so was wie einen Artikel für eine Zeitung" schreiben muss.
Mit einem deutlichen Klatschen in die Hände beruhigen sich alle und ich sitze ganz hinten vor den Regalen, in denen Kästchen oder die Schublade mit dem Malzeug stehen und habe endlich Zeit mich richtig umzuschauen. Also an der Wand hier hinten ist über dem Regal eine Reihe Kleiderhaken. Darüber hängt die riesige "Weltkarte für Kinder". Mensch, da steht ja noch ein ganzer Stapel Spiele und Puzzle auf dem Regal. Und daneben ist noch ein großer Schrank. Was da wohl drin ist? Die linke Seite ist die "Fensterseite", mit drei großen hellen Fenstern. Huch, na das geht ja einfach! Frau Günther drückt nur auf einen Knopf und schon werden echte Hightech-Rollos runtergelassen, die perfekt vor der direkt hinein scheinenden Sonne schützen. Dagegen sind die an unserer Schule mühsam mit der Hand runter zu kurbelnden Lamellenrollos ja ein Witz!
"So, heute steht das Handeln auf unserem Stundenplan." In der zweiten Stunde soll sogar die Zeitung kommen, weil die von dem kleinen Handel gehört hat und dass das "verdiente" Geld gespendet werden soll. "Und jetzt holt bitte alle euer Kleingeld raus." Auf Kommando fangen alle an ihr Geld aus ihrem Portmonee auf den Tisch zu kippen. Das ist ein Geklimper! Da haben die Eltern wirklich "Kleingeld ohne Ende" für ihre Kinder locker gemacht!
Es macht Spaß, den Kindern zuzugucken, die so viel Spaß am Lernen haben, bei denen jeder versucht, seine Hand höher als die des anderen zu bekommen, um sagen zu dürfen, was der Unterschied zwischen einem 1€-Stück und einem 2€-Stück ist und welches Geldstück denn nach den 2€ kommt. "Ääähh, hundert Euro?", "Nein, nein ich weiß es, fünf Euro!", "Ein 5€-Stück?", mischt sich Frau Günther ein. "Nein! Natürlich ein Schein!"
Auch Frau Günther macht ihre Einkaufsrunde. Das ist wirklich ein buntes Treiben! Da muss ich mich doch auch mal ein wenig umsehen… Hier wird wirklich gehandelt was das Zeug hält! "Marc, wie viel kostet das hier?", "Hmm, hierfür nehme ich einen Cent. Nein, doch lieber zwei."; "Guck mal, ich habe mir ein Flugdings gekauft, das fliegt bestimmt bis zur Sonne!" Bei Simon, Marc, Klara, Anais, Nigel, Paul, Steffi und allen anderen ist von morgendlicher Müdigkeit keine Spur. Alle sind ja glücklich mit ihren Geschäften. So macht Schule Spaß!!!
"Weißt du was wir mit dem Geld machen?" Lukas erzählt mir ganz stolz, dass sie das Geld dem Irak spenden. Als der Spendentopf (eigentlich eher die Spendenschüssel) bei mir vorbeikommt, ist er schon ganz schön schwer und am Ende so voll mit dem ganzen Kleingeld, dass Björn ihn schon gar nicht mehr mit einer Hand hochheben kann.
Mein Tag in der ersten Klasse geht weiter. Eine Schulklingel gibt es hier nicht, wodurch alles miteinander verbunden ist und ineinander übergeht3. Es ist schon Hofpause, das heißt, die Zeit in der 1c war nicht nur eine, sondern zwei Stunden. Hmmm, kam mir gar nicht so lang vor wie zwei Stunden sonst in meinem Unterricht.
"Kommst du mit mir auf den unteren Hof?" werde ich gefragt. Zwei Höfe, wie das? Das Geheimnis ist schnell gelüftet. Es gibt einen etwas kleineren auf der Ebene des Erdgeschosses, den ich ganz am Anfang gesehen habe, als ich auf das Schulgelände kam und noch einen großen Sportplatz, auf dem ein kleines Basketballfeld und ein Fußballplatz ist, also auf der Ebene des Untergeschosses. Hier haben die Kinder richtig viel Platz um verschiedenste Ballspiele zu spielen und natürlich auch um sich einfach nur auszutoben. Dieser wirkt lange nicht so voll wie der obere. Aber das liegt wahrscheinlich daran, dass sich alle hier viel mehr verteilen und sich nicht auf einen Punkt konzentrieren, wie zum Beispiel auf das Klettergerüst.
Damit die Kinder die Möglichkeit haben sich den Kopf freizumachen zwischen ihrem Unterricht, findet das "Vormittagsband" (VB) statt. Das ist so etwas Ähnliches wie eine AG oder ein Wahlpflichtfach, denn man muss sich eines aussuchen, es wird aber nicht benotet und ist zum ungezwungenen, fröhlichen und gemeinsamen Lernen da4. Angeboten werden zum Beispiel Malen, Märchen, Schulgarten, Energie-Dance, Flöte, Englisch, Spiele im Freien, und, und, und… Betreut werden die VB's nicht nur von den Lehrerinnen und Lehrern. So wird zum Beispiel der Flötenunterricht von Herrn Büttner, einem Musikschullehrer, der sozusagen Gastunterricht an der Schule gibt, geleitet und eine der beiden Englischgruppen von einer Mutter 5.
Ich bin jetzt mit Klara, Tiffany, Laura, noch einer Laura, Lukas, Björn und Philipp beim Basteln bei Frau Fiedler. Wir basteln ein Daumenkino. Die Kinder sollen so gerade wie möglich die einzelnen Kärtchen ausschneiden. Das richtige Umgehen mit der Schere ist schon eine schwierige Sache! Hier bin ich ja in der Bastelwerkstatt gelandet. Ein Regal mit fertigen und unfertigen Tonfiguren steht an der Wand, daneben Kleiderhaken mit ausgewaschenen, gestreiften Schürzen und auf dem Fensterbrett liegen alle möglichen Werkzeuge um Ton zu bearbeiten.
Frau Fiedler schickt uns wieder zum Unterricht, denn woher soll man bei nicht vorhandener Schulklingel auch wissen, wann die Stunde vorbei ist. Das VB dauert nur eine dreiviertel Stunde. Auf dem Weg in den Klassenraum treffe ich Anais wieder, die "Das Brot von Jesus" in der Hand, aus dem Religions-VB kommt.
Für die nächste Stunde besuche ich die 1a 6. Der Klassenraum ist genauso schön, groß und liebevoll dekoriert wie die anderen, die ich heute schon gesehen habe. Ein Unterschied ist allerdings, dass jeder Tisch etwa anderthalb mal so groß ist wie z.B. die von unserer Schule. Als ich mich an einen solchen Tisch setze, ein Stück zur Seite rutsche, damit der Junge hinter mir auch genug sehen kann und mich genauer umschaue, fällt mir noch etwas auf. Es gibt hier keinen Schuhschrank und alle lassen ihre Straßenschuhe an. Ein Zeichen für die vielen Anstrengungen, die die Kinder dieser Klasse oft machen müssen? Auch sind die Namensschildchen auf Ordnern, Heftern und Malzeugkästen nicht von jedem persönlich mit Hand geschrieben. Frau Fiedler wirkt zuerst streng und ist kein bisschen zimperlich, wenn es darum geht, erst mal alle zum Zuhören zu bekommen. Durch die sehr kleine Schüleranzahl kann jedes Kind die Aufmerksamkeit bekommen, die es braucht.

Ich muss wohl relativ fasziniert ausgesehen haben, denn Frau Fiedler meint lächelnd "Ist doch schon ein ganz anderer Unterricht als drüben, oder? Schließlich hätte man das mit den anderen in zehn Minuten geschafft." Sie hat natürlich Recht und trotzdem - ich fühle mich sehr wohl hier und trotz einiger Ermahnungen ist es von der Arbeitsweise her ruhiger 7.

Als nächstes und letztes gehe ich noch in die 1b. Hier erwarten mich 24 Kinder. Laura, die ich ja noch aus dem Vormittagsband kenne, freut sich wahnsinnig, dass ich jetzt endlich zu ihr komme. Ein freundliches Hallo von Frau Schulze, der Klassenlehrerin und ich setzte mich wieder nach ganz hinten. Der Klassenraum ist genau wie der der 1c. Auch hier gibt es noch eine zweite Erwachsene in der Klasse, die zur Unterstützung ein Auge auf alles hat 8. Es geht auch schon wieder deutlich turbulenter zu. Als erstes schlagen "wir" das Hausaufgabenheft auf und der erste Ferientag wird eingetragen. Dann soll auch in der 1b der Handel losgehen.

Während ich in den anderen beiden Klassen alles gemütlich von meinem Platz aus beobachtet habe, helfe ich hier gleich ein bisschen mit beim "Auspreisen". Die schönen Kleinigkeiten dürfen höchstens für einen Euro verkauft werden. Hui, was sehe ich denn da? Will Lara denn ihr ganzes Kinderzimmer loswerden? Zwei große Tüten und einen Rucksack voll hat sie mit her geschleppt.

Das Handeln macht den Kindern der 1b nicht weniger Spaß als denen der 1c. Ein Rolli (Rollstuhl mit Kind natürlich) wird durch den Raum geschoben. Alle konzentrieren sich voll und ganz. Dabei geht der Spaß natürlich nicht verloren. "So, wir hatten ja jetzt nicht mehr so viel Zeit, wollen wir die Sachen hier lassen und Montag noch weiter handeln?", "Jaaaa!!!" - eindeutig einstimmige Antwort.
Zufrieden? Na das bin ich aber auch! Schule kann wirklich Spaß machen. Und das "gewagte Konzept", wie es auf der Homepage der Gesamtschule genannt wird, sollte man beibehalten 9. Die Grundschule Birkenwerder ist eine besondere Schule. Gerade deshalb, weil kindliche Selbstverständlichkeit erhalten bleibt.

1 An dem Schulversuch nimmt auch die Regine-Hildebrandt-Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Birkenwerder teil. Anliegen des Schulversuchs ist es, das gemeinsame Lernen von Kindern und Jungendlichen mit und ohne Behinderungen zu unterstützen. Dafür werden pädagogische Konzepte und schulorganisatorische Formen entwickelt, die einen möglichst flexiblen Umgang mit den besonderen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler zulassen. Zu dem Gesamtprojekt gehören weitere eigenständige Arbeitsbereiche, wie "rhythmisierter Schulalltag", "Leistungsbewertung" oder "innere Schulentwicklung und Evaluation".
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2 Der flexible Anfang gehört zu dem "rhythmisierten Schulalltag". Die Kinder können in der Zeit von 7.30 bis 8.00 Uhr in ihren Klassenraum gehen. In der gemeinsamen Ankommenszeit wird gespielt, Wichtiges mit der Lehrerin oder anderen Kindern besprochen oder schon etwas für den Unterricht vorbereitet.
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3 Die Lernzeiten werden in 90 Minuten Zeiteinheiten organisiert. Das bedeutet, dass mehr Zeit für eine abwechslungsreiche Arbeit an einem Thema besteht. Unterschiedliche Tätigkeiten und auch Zeiten für Ruhe und Entspannung sind so besser zu organisieren. Alle bestätigen, dass mit den größeren Lernzeiten und dem Verzicht auf das Klingelzeichen weniger Hektik an der Schule herrscht. Und noch einen weiteren positiven Effekt gibt es: Die Kinder orientieren sich selbst an der Uhr im Klassenraum und lernen so, mit der Zeit umzugehen.
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4 Das Vormittagsband gehört zum "rhythmisierten Schulalltag" und hat mehrere Ziele: a.) den möglichst optimalen Wechsel von Spannung und Entspannung über den Schultag zu unterstützen; b.) Klassengrenzen aufzulösen und für Kinder mit und ohne Behinderungen neue Lerngruppen zu organisieren und damit Begegnungen und Freundschaften zu erleichtern; c.) projektorientiertes Arbeiten und Übungszeiten über den Unterricht hinaus zu befördern sowie d.) sonderpädagogische Förderung und Therapie in der Schulzeit möglich zu machen, ohne dass dafür Unterricht für Kinder mit Behinderungen ausfallen muss.
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5 Engagierte Eltern und sogenannte externe Professionelle bereichern das Angebot im Vormittagsband inhaltlich. Mit ihrer Mitwirkung können die Anzahl der Angebote erhöht und damit die auch die Gruppen kleiner werden. Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport und das Staatliche Schulamt Perleberg finanzieren in jedem Schuljahr ca. zweieinhalb Lehrerstellen zusätzlich für das Vormittagsband in der Grundschule Birkenwerder
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6 Die A-Klassen werden Kooperationsklassen genannt. In diesen Klassen lernen 6 bis 12 Kinder mit schweren Körperbehinderungen und Mehrfachbehinderungen, wenn wir für sie noch nicht die notwendigen Vorraussetzungen für ihre Integration schaffen können. Im Vormittagsband und im regelmäßig stattfindenden kooperativen Unterricht gibt es allerdings immer wieder gemeinsame Lern- und Begegnungszeiten zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen. Häufig berichten auch Kinder ohne Behinderungen begeistert von den Kooperationsstunden mit den Kindern der A-Klasse, denn sie werden von den Lehrerinnen und Lehrern im Rahmen von Teamarbeit besonders intensiv vorbereitet.
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7 Die Kinder der Kooperationsklassen sind von uns nach ihren Eindrücken im kooperativen Unterricht (also Unterricht gemeinsam mit einer anderen Klasse der Jahrgangsstufe) befragt worden. Sie sagten, dass es für sie zwar unruhiger ist als in der kleinen Gruppe, sie sich aber auch mehr anstrengen, weil es mehr gute andere Schülerinnen und Schüler gibt. Insgesamt finden sie den kooperativen Unterricht ganz schön aufregend und spannend. Einige Kinder sind von der größeren Gruppe zunächst verunsichert. Regelmäßigkeit und feste Kontakte zu den anderen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern schaffen aber mit der Zeit Sicherheit und Vertrauen.
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Für die Kinder mit Behinderungen ist der Kontakt zu den anderen Kindern besonders wichtig. Damit ist nicht nur der soziale Kontakt gemeint, sondern Kinder lernen auch gern und viel - das vergessen wir Erwachsenen manchmal - von anderen Kindern. Wer in seiner Familie Geschwisterkinder hat, kennt dafür viele Beispiele. Aber auch für die nicht behinderten Kinder ist der Umgang mit Kindern, die "anders" sind, eine wichtige Lern- und Lebenserfahrung. So verstehen sie Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten besser und können diese eher an sich selbst zulassen. Außerdem wissen wir, dass Kinder in der Partnerarbeit voneinander profitieren, denn selbst erklären zu können heißt, den Stoff gut verstanden zu haben. Und nicht zuletzt gewinnen alle in der Klasse bei einem kindbezogenen Unterricht, der die Stärken und Schwächen der Jungen und Mädchen im Blick hat.
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Der Schulversuch "Integrativ-kooperative Schulen in Birkenwerder" dauerte von 1999 bis 2005 und konnte mit großem Erfolg beendet werden. Beide Schulen sind in der Nachfolge des Modellversuchs zu Konsultationsschulen für die integrativ-kooperative Arbeit ernannt worden.
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