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Vortrag Prof. Dr. Jutta Schöler 01.04.2006



Vortrag auf dem Integrationstag am 01. April 2006 in Birkenwerder

Integration und Kooperation ein Jahr nach dem Schulversuch
Nach dem Vortrag am 1. April 2006 in Birkenwerder - überarbeitete Textfassung

Ein Jahr nach Beendigung des Schulversuches, welcher 1999 hier in Birkenwerder begann, befinden wir uns jetzt - im letzten Drittel des Schuljahres 2005/06, in einem bedeutenden Zeitraum: Zum ersten Mal werden Ende dieses Schuljahres in der Gymnasialen Oberstufe sieben Schülerinnen und acht Schüler ihr Abitur ablegen, die im Schuljahr 1999/2000 in der 7. Klasse im gemeinsamen Unterricht an dieser Schule ihre Sekundarstufenschulzeit begonnen haben.
(Insgesamt werden 32 Abiturienten in diesem Jahr die Sekundarstufe II in Birkenwerder abschließen.) - In diesem Jahr werden hoffentlich viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, die die Schule am Ende der 10. Klasse mit einem Mittleren Schulabschluss verlassen haben, eine berufliche Ausbildung erfolgreich abschließen. - Zum Schuljahresbeginn im vergangenen Herbst sind zum ersten Mal Schülerinnen und Schüler aus der örtlichen Grundschule in die Gesamtschule gewechselt, die vom 1. Schuljahr an das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung erlebt haben. - Für alle diese Kinder und Jugendlichen war es etwas Selbstverständliches, was an den allermeisten Schulstandorten in Deutschland noch ungewöhnlich, für manche nicht vorstellbar erscheint. - Alle Kinder, die hier wohnen, können gemeinsam in eine Schule gehen. - Für diese kleine Stadt Birkenwerder - mit S-Bahnanschluss im Norden von Berlin - gut erreichbar ist es eine Normalität, die ich aus Italien seit ca. 30 Jahren kenne und die in allen skandinavischen Ländern genauso lange als Selbstverständlichkeit gilt.
Dass einige Eltern sich dennoch anders entscheiden und ihr Kind am Beginn der Schulpflichtzeit in eine Allgemeine Förderschule für Lernbehinderte oder in eine Schule für Geistigbehinderte in eine benachbarte Gemeinde gegeben haben, ist meiner Einschätzung nach z.T. mit verständlicher Unsicherheit der Eltern gegenüber einer Art von Schule zu erklären, die sie selbst aus ihrer eigenen Schulzeit nicht kennen. - Andererseits fehlt es aber auch noch an Überzeugungsarbeit, die von den beratenden Kindergartenerzieherinnen und den Sonderpädagoginnen geleistet werden müsste. - Andere Eltern entscheiden sich nach der 6. Klasse Grundschule, ihr Kind nicht hier in Birkenwerder in der Gesamtschule einzuschulen sondern in einer Sonderschule einer benachbarten Gemeinde, die sich Gymnasium nennt.

Eine Schule ohne Kinder mit Behinderung ist nach meinen Ansprüchen keine normale Schule - sondern eine Sonderschule. -
Den Schülerinnen und Schülern am Gymnasium wird die tägliche Erfahrung verwehrt, dass ein Mensch auch dann Anerkennung erhält, wenn seine Leistungen nicht denen der jeweiligen Mehrheit entsprechen oder wenn er für sein Leben besondere Kommunikationsformen oder Unterstützung benötigt.

Diese Gesamtschule hier wird in den nächsten Jahren mit ihrer Arbeit sich weiter den guten Ruf ausbauen, dass nicht nur Kinder mit Lernproblemen hier gut gefördert werden, sondern auch die Kinder mit besonders hohen Lernerwartungen.

Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft, in der es immer noch als "normal" angesehen wird, Kinder von der Mehrheit aller anderen Kinder zu trennen, wenn sie andere Bedürfnisse haben für ihr Leben und Lernen als die jeweilige Mehrheit. Diesen Eltern wird oft geraten, ihr Kind in einem Schonraum von Sonderkindergarten, Sonderschule oder Sonderwerkstatt lernen und leben zu lassen, weil dieses Kind wegen einer körperlichen Beeinträchtigung, einer Sinnesschädigung oder einer intellektuellen Beeinträchtigung langsamer oder anders lernt als die anderen gleichaltrigen Kinder. - Oder die Eltern entscheiden sich, dass das Kind mehr unter Druck lernt oder auch eventuell mehr an Lernstoff angeboten bekommt, wenn es ein Gymnasium besucht. - In vielen anderen Ländern gilt bereits eine andere gesellschaftliche Normalität: Alle Kinder haben das Recht auf ein gemeinsames Lernen; die besonderen Unterstützungen oder besonderen Methoden und die Lernanreize für die besonders Neugierigen, Intelligenten und von zu Hause aus gut Geförderten werden in der gemeinsamen Schule des Wohnortes angeboten. In Italien oder allen skandinavischen Ländern besuchen die gemeinsame Schule bis zum Ende der 9. oder 10. Klasse. - Eine Aufteilung nach Gymnasium, Realschule, Hauptschule oder Sonderschule gibt es in jenen Ländern nicht1.

Nach meiner Einschätzung sind wir gegenwärtig im Land Brandenburg an einem Entwicklungspunkt angelangt, wo es dringend notwendig ist, strukturelle Veränderungen durchzusetzen: Nicht nur wegen der dramatischen demographischen Entwicklung. Es werden Grundschulen, Gymnasien, Gesamtschulen wegen zurückgehender Schülerzahlen geschlossen. - Wenn eigenständige Sonderschulen erhalten werden, bedeutet dies nahezu zwangsläufig, dass sich dort die problematischsten Schüler und nur sehr wenige Schülerinnen konzentrieren. Die Umwandlung bestehender Sonderschulen in Regelschulen - für einen Übergangszeitraum mit eng kooperierenden Sonderklassen2 - erscheint mir als der einzig richtige Weg. - Regionale Schulentwicklungspläne müssen festlegen, bis zu welchem Zeitpunkt welche Schule geschlossen bzw. umgewandelt werden soll. - In Birkenwerder ist der Prozess der äußeren Schulstruktur-Veränderung bereits abgeschlossen. - Jetzt geht es darum: Für alle, wirklich alle Kinder am Wohnort eine immer bessere Schule werden.

Seit Beginn dieses Schuljahres 2005/06 werden weder an der Grund- noch an der Gesamtschule hier in Birkenwerder Kinder mit Behinderung in eigenständigen Klassen unterrichtet. - Das ist gut so!!

Haben Sie bitte noch einen kleinen Augenblick Geduld für einen weiteren Rückblick:

In der ehemaligen DDR war die Aufgabe des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern kein Thema. - Ich weiß von einer ehemaligen Mitarbeiterin der Wissenschaftlichen Bibliothek in Potsdam, dass es ein ausdrückliches Verbot gab: Zu diesem Thema durften keine Bücher "aus dem Westen" angeschafft werden. - Nur wenige Wissenschaftler erhielten Reisegenehmigungen, um eigene Erfahrungen machen zu können.

Winfried BAUDISCH, damals Direktor der Sektion Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Magdeburg, veröffentlichte noch im Heft 1/1990 der Zeitschrift die Sonderschule einen Aufsatz, in welchem er u. a. schreibt: "Das Integrationskonzept der spätbürgerlichen Sonder- bzw. Heilpädagogik trägt klar erkennbar Klassencharakter, weil es die dem Kapitalismus wesenseigene soziale Benachteiligung von Schwachen und Randgruppen kaschieren soll, ohne sie in ihren Wurzeln beseitigen zu können." - In dem Aufsatz kann man zur Kennzeichnung von schulischer Integration behinderter Kinder die Stichwörter lesen: "Individualpsychologisches und reformistisches Gedankengut" - "Illusion von der Vermeidung einer Stigmatisierung und einer Erhöhung der sozialen Chancen." (BAUDISCH, S.5)

Es wird in diesem Beitrag der Eindruck erweckt, es handele sich um eine besonders raffinierte Idee des kapitalistischen Staates, behinderte Kinder mit nicht behinderten gemeinsam lernen zu lassen. - Dass die damals - 1989 - in Deutschland noch relativ seltenen Beispiele immer noch Ausnahmen waren, dass sie rechtlich und finanziell zumeist nicht abgesichert und von engagierten Eltern über Selbsthilfegruppen erstritten worden waren, das wird in dem Beitrag von Herrn BAUDISCH verschwiegen3.

Als dann im Herbst 1989 die Mauer fiel, waren für viele Eltern behinderter Kinder und für etliche Lehrerinnen und Lehrer die Fläming-Grundschule oder die Uckermark-Grundschule in Berlin begehrte Ziele für Hospitationen. - Ich vermute, auch hier im Raum sitzen einige, die in diesen Schulen am Beginn der 90er Jahre hospitiert haben, um sich einen eigenen Eindruck davon zu verschaffen, dass und wie das gemeinsame Lernen aller Kinder möglich ist.

In der erziehungswissenschaftlichen Literatur sind neben der Einzelintegration diese beiden Modelle bereits eingeführt:

Das Fläming-Modell - eine Klasse neben drei "Regelklassen", seit 1976 (10 + 5) wohnortübergreifend

Das Uckermark-Modell - drei Klassen pro Jahrgang (je 18 + 2) - alle Klassen dieser Schule, seit 1982 wohnortnah4.

Nur wenigen Fachleuten ist bisher bekannt:

Das Birkenwerder-Modell - 1999 aus der Umwandlung einer Sonderschule für Körperbehinderte und der Zusammenlegung mit einer Grund- und einer Gesamtschule an einem Wohnort entstanden - sind diese beiden Schulen inzwischen die einzigen Schule in dieser Kleinstadt, ohne die Konkurrenz einer Sonder-, einer Haupt- oder Realschule oder eines Gymnasiums. - Es gibt in jedem Jahrgang jeweils "Regelklassen", "Integrationsklassen", und bisher auch noch eine "Sonderklasse" mit Kooperation; seit dem Schuljahr 2005/06 sind keine eigenständigen Sonderklassen im 1. Schuljahr der Grundschule und im 7. Schuljahr der Gesamtschule eingerichtet worden5.

Ich hoffe, dass in den nächsten Jahren dieses Modell Verbreitung findet, - neben dem Ausbau von Integration am Wohnort - bevor dann - nach meiner optimistischen Schätzung im Jahre 2025 die letzte Sonderschule in Deutschland geschlossen wird.

Es gibt bereits ein erstes Beispiel dafür, dass das Birkenwerder-Modell "Schule macht". - Vor einem Jahr war der ehemalige Bundestagsabgeordnete Horst SCHMIDBAUER hier in Birkenwerder bei der Abschlussveranstaltung zum Schulversuch.- Er ist der Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe Nürnberg, welche Träger einer großen Einrichtung für Kinder und Erwachsene mit so genannter geistiger Behinderung ist. Seitdem im Frühjahr 2004 auch das bayerische Schulgesetz geändert wurde und auch dort die zieldifferente Integration gestattet ist, versuchten zunehmend mehr Eltern, ihre Kinder am Wohnort integrativ zu unterrichten. Horst SCHMIDBAUER und etliche der Lehrerinnen und Lehrer seiner Schule sehen die Gefahr, dass engagierte Eltern ihre Kinder nicht mehr in der Sonderschule unterrichten lassen wollen. Seit nunmehr zwei Jahren sind dort "Außenklassen" an zwei verschiedenen Grundschulen eingerichtet worden, auch im kommenden Schuljahr sollen wieder neue erste Klasse an Grundschulen eingerichtet werden und eng mit den dortigen Regelklassen kooperieren. - Gleichzeitig soll im kommenden Schuljahr in den frei gewordenen Räumen der bisherigen Sonderschule mit integrativen Kindergartengruppen begonnen werden, die dann als Integrationsklassen in der bisherigen Sonderschule weitergeführt werden sollen6. -
An jedem Standort und abhängig von jeder Art des sonderpädagogischen Förderbedarfs werden andere Wege notwendig sein, um das langfristige Ziel zu erreichen, dass alle Kinder gemeinsam in einer Schule unterrichtet werden. - Kein Kind darf zurückbleiben, jedes einzelne ist wichtig in dieser Gesellschaft.

Jede/jeder einzelne von Ihnen alleine kann wenig verändern, aber Sie können Netzwerke bilden und dann - mit langem Atem! - auch gemeinsam Strukturen verändern. -

Dabei hat ein Schulrat/eine Schulrätin andere Handlungsmöglichkeiten als ein Schulleiter7. Selbst dann, wenn sie nicht mehr Unterrichtsstunden zur Verfügung stellen können, ist es wichtig, eine Orientierung zu geben, in welche Richtung die Schulentwicklung weiter gehen soll. - Nach meinen Erfahrungen beginnt dies an vielen Orten, in vielen Schulen mit der Aufgabe, ein einzelnes Kind integrativ zu beschulen. - Einzelne Professionelle beginnen vor Ort, die Eltern behinderter Kinder in ihrem Wunsch nach mehr Normalität zu unterstützen. So z.B. in Schwedt an der Oder: Dort wurde zum ersten Mal vor neun Jahren ein Kind mit geistiger Behinderung in eine Grundschule aufgenommen, nachdem die Eltern ein Jahr lang das Schulamt verklagt haben - und den Prozess gewannen8. - Zunächst hatte sich danach die Schulleiterin einer Grundschule, danach ein Schulleiter einer Gesamtschule mit den Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam engagiert, damit die per Gerichtsbeschluss "von oben" aufgedrückte pädagogische Aufgabe für das Kind gut bewältigt werden konnte. - Inzwischen ist es an einer Grundschule und an der benachbarten Gesamtschule in Schwedt/Oder fast eine Selbstverständlichkeit, dass behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. -

In Neutrebbin besucht eine körperbehinderte Schülerin seit zwei Jahren dieselbe Schule wie ihre Zwillingsschwester, nachdem sie die ersten beiden Schuljahre weit entfernt vom Wohnort eine Sonderschule besuchen musste. - Nach den ersten Erfahrungen und der Bewältigung erster Unsicherheiten ist es auch in der Grundschule in Neutrebbin alltäglich geworden, dass Kinder wegen einer Lern-, Sprach- oder Verhaltensstörung nicht mehr in eine Sonderschule verwiesen werden, sondern: Eine Sonderpädagogin kommt regelmäßig in die Grundschule, berät und unterstützt die Klassen- und Fachlehrerinnen der Grundschule und arbeitet teilweise in kleinen Gruppen mit den Kindern, die eine besondere Förderung benötigen - das sind nicht immer nur die Kinder mit dem offiziell anerkannten sonderpädagogischen Förderbedarf. - Diese Sonderpädagogin hat mir berichtet, dass sie und eine Kollegin von den Fortbildungen, die hier in Birkenwerder angeboten wurden, für ihre eigene Arbeit sehr profitiert hat.

Die Lehrerinnen und Lehrer, die einmal begonnen haben, für ein einzelnes Kind einen Förderplan zu schreiben und für dieses Kind ganz konkret zu überlegen, wie die Nachteile, die aus der Behinderung resultieren, ausgeglichen werden können, damit das Kind wirklich zeigen kann, was es kann und damit es nicht immer wieder auf die Defizite festgelegt wird, diese Lehrerinnen und Lehrer beginnen nahezu immer, sich über ihren Unterricht und alle Kinder anders Gedanken zu machen. Sie erfahren dabei, wie wichtig es ist, mit seinen Problemen nicht alleine - zu Hause am Schreibtisch zu sitzen, sondern dass die eigenen Gedanken angeregt werden, im Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen. - Statt sich und seiner Familie den Sonntag Nachmittag und Abend zu verderben, ist im günstigen Fall ein Nachmittag in der Woche in der Schule fest eingeplant für die Konzeption der jeweils nächsten oder übernächsten Unterrichtseinheit, des nächsten Projektes.

Lehrerinnen und Lehrer sind es bisher in Deutschland wenig gewohnt, gemeinsam zu arbeiten. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Kooperation der Erwachsenen im Klassenzimmer ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Gelingen des gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern (siehe SCHÖLER, 1997). Es wird von den Lehrerinnen und Lehrern der "normalen Schulen" erwartet, dass sie die Aufgaben der Erziehung und Unterrichtung aller Kinder weitgehend alleine bewältigen. Sie haben nicht (wie z.B., in den skandinavischen Ländern) die Möglichkeit, Sozialpädagogen oder Psychologen, die zum Team der Schule gehören, regelmäßig zu kontaktieren oder als Unterstützung für sich und für das Kind in den Unterricht einzubeziehen. Besondere Herausforderungen können in Deutschland zu schnell entweder als Versagen der Lehrerin/des Lehrers oder als Versagen des Kindes bewertet werden.

Lehrerinnen und Lehrer, egal ob sie an Sonderschulen oder an Regelschulen unterrichten, sind auf die Aufgabe des gemeinsamen Unterrichts für alle Kinder bisher nicht vorbereitet. Nur wenige Universitäten oder Fortbildungseinrichtungen bieten die notwendigen Seminare an. - Deshalb sind Hospitationsmöglichkeiten, Gesprächsangebote zum Erfahrungsaustausch und Fortbildungen - wie sie u. a. auch von den Schulen in Birkenwerder angeboten werden - so ungeheuer wichtig. - Ein Dank den Lehrerinnen und Lehrern dieser Schule, die diesen heutigen Tag vorbereitet haben.

In allen anderen Ländern, die mit dem gemeinsamen Unterricht weiter sind als Deutschland, ist es der normale Ausbildungsweg, dass alle Lehrerinnen und Lehrer sich auf den Regelfall des inklusiven Unterrichts mit fachlichen Schwerpunkten vorbereiten und nach einer gewissen Zeit der Unterrichtserfahrungen in einem Ergänzungsstudium spezielle sonderpädagogische Qualifikationen erwerben können.
Auch für die SonderpädagogInnen in Deutschland muss eine neue Zukunftsperspektive entwickelt werden: Sie müssen die Sicherheit erhalten, dass sie mit ihrer sonderpädagogischen Qualifikation auch Klassenlehrerin/Klassenlehrer einer Integrationsklasse sein dürfen und mit ihrem studierten Fach zugleich als Fachlehrer/in in einer Inklusiven Schule arbeiten können.

Zur Vorbereitung auf den heutigen Vortrag habe ich Frau Pietsch angerufen, eine der Lehrerinnen, die vor sieben Jahren in der Grundschule im ersten Team des Schulversuches gearbeitet hat und jetzt zum zweiten Mal im Anfangsunterricht mit gemeinsamem Unterricht begann. - Ich habe sie gefragt: "Welches ist für Sie die wichtigste Veränderung - wenn Sie den 1. und den 2. Start vergleichen?" - Dies ist eine Frage, die sich vielleicht auch alle anderen Lehrerinnen und Lehrer einmal stellen, die schon längere Zeit im gemeinsamen Unterricht arbeiten: "Was ist anders - beim 2. Start mit einer Integrations-/kooperationsklasse im Vergleich zum ersten?" -

Frau Pietsch hat ohne langes Überlegen geantwortet: "Anders war, dass wir von Anfang an alle Kinder gemeinsam unterrichten wollten. - Gar nicht erst mit den Trennungen beginnen! - Besonders wichtig ist das in den so genannten Leistungsfächern Deutsch und Mathematik. - Die Kinder müssen es gar nicht anders kennen lernen, als miteinander zu kooperieren, auch wenn sie verschiedene Aufgaben mit verschiedener Schwierigkeit bearbeiten. - Beim ersten Durchgang haben wir viel zu lange gewartet mit der Kooperation zwischen den Kindern der verschiedenen Klassen. Die Gruppen haben sich in der Trennung gefestigt; und wir Lehrerinnen dachten, das gemeinsame Lernen sei nur im Musikunterricht, ab und zu mal in Sachkunde oder in einem Projekt möglich. - Jetzt merken wir: Es ist viel einfacher, wenn wir konsequent gemeinsam lernen - mit den beiden Lehrerinnen und der Schulhelferin, gemeinsam mit allen Kindern. - Manchmal nehmen wir dann auch eine kleine Gruppe aus der Klasse raus. Dabei gibt es aber nicht die Trennung "Behinderte/Nichtbehinderte."

Seit dem Beginn des Schuljahres 2005/06 gibt es in Birkenwerder weder im 1. Schuljahr der Grundschule noch im 1. Schuljahr der Gesamtschule eine Sonderklasse nur für Behinderte.
Jetzt kann es weitergehen mit der Intensivierung der Kooperation zwischen den Lehrerinnen und Lehrern, was an der Gesamtschule mit der großen Zahl von Fachunterricht deutlich schwieriger ist als an der Grundschule. - Beste Voraussetzung für integrativen Unterricht bieten Projekte, die fachübergreifend geplant und durchgeführt werden. - Je länger die Zeiträume sind, für die an einem Thema gearbeitet wird, um so leichter ist es, sowohl die Lernbedürfnisse der hoch befähigten Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen, damit diese sich nicht langweilen, als auch die besonderen Lernanlässe zu planen, an denen Schülerinnen und Schüler mit Lernproblemen arbeiten können und dennoch zu einem sie selbst befriedigenden Ergebnis führen.

Bei einem so verstandenen Unterricht kann jedes Kind, jeder Jugendliche seine Rolle finden, die er oder sie ausfüllt; und in der Lerngruppe können alle ihre Individualität stärken.

Ich freue mich sehr, dass mir Ihr Kollege Herr ACKERMANN einen kurzen Film zur Verfügung gestellt hat, in dem ein solches fächerübergreifendes Projekt dokumentiert ist. - Sicherlich ist es etwas Außergewöhnliches, außerhalb der Schule und des regulären Unterrichts an der Schule angesiedelt. - Innerhalb des Schulgebäudes und des Schulalltags ähnliche Projekte durchzuführen, ist nicht einfach. Aber: Dieses Beispiel kann Anregungen geben. - Wie Mathematik- und Biologieunterricht, Geographie- und Deutschinhalte in einem solchen Projekt verbunden werden können, das kann jeder Einzelne von Ihnen leicht nachvollziehen.

Den Film werde ich nicht weiter kommentieren. - Meines Erachtens ist offensichtlich und muss nicht weiter erläutert werden, wie ein Schüler/eine Schülerin mit hoher Motivation und sehr guten Lernvoraussetzungen von einem solchen Unterricht profitieren kann und zugleich auch ein Schüler/eine Schülerin mit großen Lernschwierigkeiten, die als lern- oder geistig behindert bezeichnet wird.

- Film ab -

Mancher von Ihnen wird sich nach den Eindrücken dieses Filmes fragen: Wie kann ich das, was ich hier gesehen habe, auf den "normalen" Schulalltag übertragen? - Meine Antwort: Die Kooperation über Fachgrenzen hinweg intensivieren. - Ein Mathematiklehrer, eine Deutschlehrerin und ein Geographielehrer können auch vom Schulstandort aus eine Unterrichtseinheit planen, in der die Messung und maßstabgerechte Zeichnung eines Seetiefenprofils verbunden wird mit der Klärung der Frage nach der besonderen Beschaffenheit der Seen in der Umgebung und dem Vertiefen von Textverständnis. - Selbstverständlich ist für alle Beteiligten der Lerneffekt größer, wenn das kognitive Lernen mit dem sozialen und emotionalen Lernen während einer solchen Reise verbunden werden kann. - Für die Teilhabe an derartigen Lernerfahrungen ist nicht mehr die Frage entscheidend: Welche Behinderung oder welchen sonderpädagogischen Förderbedarf hat die Schülerin/der Schüler, sondern: Kann man sich auf ihn/auf sie verlassen? - Verhält sich dieser Heranwachsende verantwortungsvoll gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern und den Booten? - Sind alle bereit, mit dem ihnen möglichen Arbeitsaufwand zum Gelingen des Gesamtprojektes beizutragen? - Dabei kann manchmal festgestellt werden, dass Einzelne, denen schulisches Lernen nicht schwer fällt, von sich aus seltener die Initiative ergreifen, um notwendige Arbeiten zu erledigen als andere, denen Vieles schwerer fällt. In konkreten Handlungssituation sind sie aufmerksam und übernehmen von sich aus verantwortungsvolle Aufgaben. -

Ich schließe meinen Vortrag mit einer Klärung des Begriffes Behinderung (in Anlehnung an Alfred Sander):

"Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist." (SANDER, S. 106) - Hier in Birkenwerder ist es möglich geworden, dass ein Kind/ein Jugendlicher trotz Schädigung oder Leistungsminderung die Schule "seines Wohnbezirkes besuchen kann und dort optimale Förderung, spezifische Unterstützung in sozialer Akzeptanz erfährt." (SANDER, S. 107)

Literatur: BAUDISCH, Winfried: Effektive Bedingungen und Wege für die Bildung und Erziehung physisch-psychisch geschädigter Kinder und Jugendlicher. In: Zs. Die Sonderschule, 34. Jg. 1990, Heft 1, S. 1 - 9
DÜRING, Katrin; SCHÖLER, Jutta: Alle unter einem brandenburgischen Dach? Eindrücke zur Entwicklung des Gemeinsamen Unterrichts. In: BOBAN, Ines; HINZ, Adreas: Gemeinsamer Unterricht im Dialog. Vorstellungen nach 25 Jahren Integrationsentwicklung. Weinheim und Basel : Beltz, 2004, S. 62 - 69
DÜRING, Katrin: Teamentwicklung in einer Schule für alle Kinder. Wie eine Kultur gemeinsamen Denkens und Handelns entstehen kann. Dortmund : IFS-Verlag. Institut für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund, 2005
HEYER, Peter u. a.: Wohnortnahe Integration. Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder in der Uckermark-Grundschule in Berlin. Weinheim und München 1990
HEYER, Peter u. a.:Zehn Jahre wohnortnahe Integration. Behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam an ihrer Grundschule. Frankfurt am Main : Arbeitskreis Grundschule, 1994
PROJEKTGRUPPE INTEGRATIONSVERSUCH (HRSG.): Das Fläming-Modell. Gemeinsamer Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder in der Grundschule. Weinheim und Basel. Beltz, 1988
ROEBKE, Christa; HÜWE, Birgit; ROSENBERGER, Manfred: Leben ohne Aussonderung. Eltern kämpfen für Kinder mit Beeinträchtigungen. Neuwied ; Berlin : Luchterhand, 2000
SANDER, Alfred: Behinderungsbegriffe und ihre Konsequenzen für die Integration. In: EBERWEIN, Hans und Sabine KNAUER (Hrsg.): Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen lernen gemeinsam. Weinheim und Basel : Beltz, 2002, S. 99 - 108
SCHÖLER, Jutta: Leitfaden zur Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern - nicht nur in Integrationsklassen, Heinsberg : Dieck, 1997
SCHÖLER, Jutta: Stand und Perspektiven des gemeinsamen Schulbesuchs in Brandenburg. in: Rosenberger, Manfred (Hrsg.): Schule ohne Aussonderung - Idee, Konzepte, Zukunftschancen. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand,1998, S. 177-200, auch abrufbar über: http://bidok.uibk.ac.at/library
SCHÖLER, Jutta: Die Aufgaben der Schulleitung bei der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder. In: Zs. Gemeinsam Leben. Heft 3; 1999: S. 118 - 124, auch abrufbar über: http://bidok.uibk.ac.at/library
SCHÖLER, Jutta: "Neben ihr sitzt immer ein Erwachsener" - die Tätigkeiten von pädagogischen Hilfskräften im gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern. In: Zeitschrift: "Gemeinsam leben" 10 (2002) Heft 4, S. 161 - 165
SCHÖLER, Jutta: Bilder in den Köpfen. In: Zs.: "Gemeinsam leben" 12 (2004) S. 191 - 194

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